Konstruktiv und kritisch in der Corona-Krise – und auch danach

Michael Luenen/Pixabay

Journalisten sollen kritisch sein. Doch wer nur Probleme aufzeigt, Missstände anprangert und Skandale enthüllt, der läuft Gefahr, Leser, Hörer und Zuschauer auf Dauer zu ermüden und womöglich zu deprimieren. Der Konstruktive Journalismus geht einen Schritt weiter – im positiven Sinn. Er will auch Lösungsansätze anbieten. Das kann in Krisen wie der Corona-Pandemie Mut machen. Aber auch in der Zeit, wenn das Schlimmste zumindest vorerst überwunden scheint, hat dieser journalistische Ansatz großen Wert.

Es geht nicht darum, etwas zu beschönigen. Es geht um gründlichen, kritischen und ausgewogenen Journalismus. „Die Coronavirus-Pandemie erfordert verantwortungsvolle Medien auf der ganzen Welt“, schreibt David Schraven vom Recherchezentrum Correctiv. „Konstruktiver Journalismus ist eine Grundhaltung, die den Fokus des Journalismus und der öffentlichen Aufmerksamkeit über den Schrecken der globalen Probleme hinaus lenkt und mögliche Lösungen für die Herausforderungen aufgreift, vor denen wir alle stehen.“

Was ist Konstruktiver Journalismus?

Die Anfänge des Konstrukiven Journalismus liegen noch keine zehn Jahre zurück. In seinem wegweisenden Buch „Constructive News“ (2014) vertrat der dänische Fernseh-Chefredakteur Ulrik Haagerup die These, dass herkömmliche Medien eine deprimierende Wirkung auf ihre Nutzer hätten. Dagegen könnten die Medien viel Vertrauen zurückgewinnen, wenn sie Themen konstruktiver angingen. Konkret: Der Journalismus solle sich nicht nur darauf beschränken, Probleme zu benennen, sondern auch Lösungsansätze zu bieten.

Seitdem haben sich Journalisten, Medienwissenschaftler und andere Experten mit diesem Ansatz auseinandergesetzt. Häufige Kritik: Der Konstruktive Journalismus schlage einfache Lösungen für komplexe Probleme vor. Es handele sich um einen Aktions- oder Kampagnen-Journalismus, der die Welt verändern wolle. Dabei würden jedoch oft nur die Vorschläge großer westlicher Firmen oder Organisationen weitergetragen, monierte beispielsweise die Journalistin Kathrin Hartmann.

Er könne mit der Forderung nichts anfangen, dass der Journalismus konstruktiver werden solle, schrieb Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ vor einiger Zeit in einem Kommentar: „Für mich klingt das wie eine Twitterei von Donald Trump. Konstruktiv heißt dann wohl: Der Journalismus soll positiver berichten, er soll nicht so kritisch sein, er soll sich an die schönen Dinge halten, er soll die Leute möglichst nicht aufregen und nicht aufbringen.“

Die kritische Haltung erhalten

Doch darum geht es nicht. Auch in Auseinandersetzung mit solchen Einwänden schlagen Ulf Grüner und Christian Sauer in ihrem gleichnamigen Sammelband den Begriff „Kritisch-konstruktiver Journalismus“ vor. Dieser impliziert, dass die kritische Grundhaltung bei solchen Ansätzen nicht über Bord geworfen wird.

Das Online-Magazin „Perspective Daily“, eines der führenden Medien für Konstruktiven Journalismus in Deutschland, schreibt in seiner Definition des Begriffs: „Die Idee ist vergleichbar mit konstruktiver Kritik: Dabei wird dem Gegenüber nicht nur mitgeteilt, welche Fehler gemacht wurden, sondern auch, was gut gelaufen ist und welche Verbesserungsmöglichkeiten es gibt.“

Schraven sieht drei Säulen für einen kritischen, konstruktiven und zukunftsorientierten Journalismus: (1) den Blick auf die Lösungen, (2) eine differenzierte und nuancierte Berichterstattung, die nach der besten verfügbaren Version der Wirklichkeit strebt, und (3) die Förderung einer offenen und demokratischen Debattenkultur.

Kritisch-konstruktiver Journalismus bietet Lösungsansätze an, aber schreibt sie nicht vor

Im Schravens Artikel „Konstruktiver Journalismus in Zeiten von COVID-19“ sind zahlreiche Beispiele für diesen Ansatz aufgeführt. Das beginnt bei den Lehren, die Taiwan, Hongkong oder Singapur aus früheren SARS-Ausbrüchen gezogen haben und reicht über innovative Testmethoden bis hin zu den Geschichten von Genesenen.

„Perspective Daily“ berichtete in den vergangenen Wochen unter anderem darüber, wie man einen Corona-Impfstoff möglichst vielen Menschen zur Verfügung stellen kann, welche Szenarien es für den Schulunterricht bis zu den Sommerferien gibt oder wie man die Demokratie stärken kann, um zu verhindern, dass Autokraten von der Pandemie profitieren.

Keine dieser Geschichten beschönigt die Lage oder leugnet gar die Bedrohung. Das Besondere ist, dass die Autoren über die Beschreibung der Situation hinausgehen und konkrete Ansätze anbieten, was man tun kann. Dabei liegt die Betonung auf „anbieten“. Die Beiträge enthalten Anregungen und Hinweise: So machen es andere. So könnte es sein. So hat es schon mal funktioniert.

Raus aus der „Corona-Hölle“

Konstruktiver Journalismus ist kein Gesetz und keine Religion, sondern eine Haltung. Manchmal sind es schon kleine Handgriffe, die einem Beitrag einen konstruktiven Aspekt geben. So hat sich in den vergangenen Wochen in vielen Medien eingebürgert, nicht nur die Zahl der Infizierten und der Toten im Zusammenhang mit Covid-19 zu nennen, sondern auch die Zahl der Genesenen.

Der Hinweis darauf, dass der größte Teil der Infizierten die Krankheit überlebt, nimmt einiges vom Schrecken, ohne die Situation zu verharmlosen. Das ist auch Teil jener differenzierten Berichterstattung, die nach der besten verfügbaren Version der Wirklichkeit strebt, von der Schraven spricht.

Es geht um eine Erweiterung des Blickwinkels – und damit um das Gegenteil von Zuspitzungen und Fokussierungen auf negative Aspekte. Die schlugen sich in den vergangenen Wochen in Ausdrücken wie „Corona-Knast“, „Corona-Hölle“ oder „Infektions-Tsunami“ nieder (siehe auch das „Corona-Lexikon“ bei journalist.de).

Und was jetzt?

Nun deuten die Daten von Anfang Mai darauf hin, dass die erste Welle der Pandemie zumindest in Deutschland überstanden ist. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen hat sich auf einem relativ niedrigen Niveau eingependelt. Das Gesundheitssystem ist nicht zusammengebrochen. Und Klopapier ist auch wieder ausreichend vorhanden. Alles gut? Nein!

Denn die Herausforderungen bleiben bestehen. Hitzig tobt zum Beispiel die Debatte, welche Einschränkungen wegen des Virus in Deutschland wann, wie und für wen gelockert werden können, sollen oder müssen. Auch hier gilt es für die Medien, nicht nur auf die Probleme und Gefahren hinzuweisen. Es gilt auch, verschiedene Lösungsszenarien mit ihrem Potenzial zu beleuchten und zu sehen, ob es womöglich Erfahrungswerte aus anderen Situationen gibt – getreu der Leitfrage des Konstruktiven Journalismus: Und was jetzt?

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